geschichte vom ssb drugstore
den namen 'weisbecker' haben wir in die richtige schreibweise verändert. im original wurde die oft - auch von uns in der vergangenheit - verkehrte schreibweise mit doppel"s" oder "ß" verwendet. (info vom ssb)
Aus: PROLETARISCHE JUGENDARBEIT IN SELBSTVERWALTETEN JUGENDZENTREN
Berichte und Materialien aus Westberlin. Schöneberger Jungarbeiter- und Schülerzentrum - Jugendzentrum Kreuzberg - Jugendzentrum Tiergarten - Clubhaus Falkenhager Feld - Drugstore und Weisbecker-Haus - Jugendzentrum Prisma (Reinickendorf),
Autorenkollektiv Verlag Roter Stern, Frankfurt (a.M) 1973, S.VIII-IX, S.187-192.
Relativ unbemerkt (…) konnte sich eine Gruppe "Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin" (SSB) im September 1972 Räume vom Bezirksamt Schöneberg erhandeln. Ohne bedeutende Auseinandersetzung mit der Sozialbürokratie wurde so ein weiteres selbstverwaltetes Jugendzentrum, der SSB Drugstore, eingerichtet. Der Grund dafür lag in der vordergründigen Interessensgleichheit des Bezirksamtes, für die wachsende Zahl der Trebegänger in Berlin effizientere Resozialisierungsmethoden zu entwickeln (angesichts der Unfähigkeit, "Fortschritte" auf diesem Gebiet zu erzielen) und in der spezifischen Ausrichtung des SSB Drugstore auf Trebegängerarbeit. (…)
DRUGSTORE UND WEISBECKER-HAUS
Das Drugstore arbeitete seit September 72 unter einem Randgruppenkonzept, das vorsah, neben Lehrlingen und Schülern vorwiegend jugendlichen Trebegängern die kollektive Erfahrung und Veränderung ihrer Lebenssituation zu ermöglichen. So sollten Kneipe und Teestube als Kontakt- und Kommunikationszentrum dienen, gemeinsame Arbeit in Workshop und Theatergruppe die Isolierung der Jugendlichen aufbrechen und Ansätze zur gemeinsamen Reflexion fördern, sowie Knast- und Wohngruppe Legalisierungsarbeit, Arbeits- und Wohnraumbeschaffung leisten. Darüber hinaus wurde versucht, mit einem Programm bestehend aus progressiven Filmen, Diskussionen, Straßentheater und Beatmusik politische Agitation und Rekreationsbedürfnis der Jugendlichen zu verbinden.
Die Problematik einer solchen Konzeption kann an dieser Stelle nur stichwortartig benannt werden: Die angelegte Trennung von Aktivistenkollektiv (technische Organisation des Ladens, Programmgestaltung, inhaltliche Dominanz in den AGs) und Jugendlichen als bloß konsumierenden Gästen verhinderte die Eigeninitiative der Jugendlichen and förderte das Austragen von Aggressionen.
Im Gegensatz zum SJSZ [Schöneberger Jungarbeiter- und Schülerzentrum] wurde das Drugstore nicht von vielen Jugendlichen erkämpft, sondern nach Verhandlungen des Trägervereins "Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin e.V." vom Bezirksamt zur Nutzung bereitgestellt. Das Drugstore sollte mit seiner Randgruppenarbeit über die Hilflosigkeit der öffentlichen Jugendpflege und Jugendfürsorgepolitik hinwegtäuschen und gleichzeitig als Aushängeschild für die "Fortschrittlichkeit" der Sozialbürokratie dienen. Zudem bietet die Selbstorganisation der Jugendarbeit dem Senat neben erheblicher Kostenersparnis im Personalbereich offensichtlich auch ausreichende Kontrolle der Arbeit.
Das gemeinsame Bedürfnis der Jugendlichen nach einem Zentrum ohne Kontrolle and Konsumzwang konnte sich nicht in gemeinsame Aktionen umsetzen. Verstärkt wurde diese Tatcache durch die Disparität der einzelnen Lebensbereiche der Jugendlichen und den daraus resultierenden verschiedenen Interessen.
Als Ausdruck hierfür müssen die Diskussionen Anfang 73 nach dem organisatorischen und inhaltlichen Zusammenbruch des Drugstore's verstanden werden. Schüler, sozialpädagogisch engagierte Genossen und einige Lehrlinge versuchten in endlosen Diskussionen, die Rekonstruktion des Ladens voranzutreiben und in der Kritik an der bisherigen Praxis den Begriff der Selbstverwaltung inhaltlich zu füllen. Andererseits wurde das Wohnproblem für zahlreiche Treber immer dringender. Die Vermittlung dieser beiden Interessenlagen konnte bloß ansatzweise auf einer mehr theoretischen Ebene gelingen und blieb konsequenzlos.
Erst mit der Besetzung des Drugstore's durch ca. 50 Trebe-jugendliche wurden Solidarisierung und gemeinsamer Kampf um das Haus 'Wilhelmstr.9' in Kreuzberg möglich. Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, die breite Flugblattagitation, Information in Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie Informationsfeten, Pressekonferenzen und öffentliche Verhandlungen mit der Senatsbürokratie in den besetzten Räumen umfaßte, konnten weite Teile der Bevölkerung über die berechtigte Forderung nach der Bereitstellung des Hauses in der Wilhelmstraße unterrichtet werden. Ebenso verfehlten Aktionen, wie der gemeinsame Gang zur Wilhelmstraße, um dort zu duschen (im besetzten Drugstore fehlten derartige Einrichtungen, zudem waren Krankheiten aufgetreten) ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht: Zahlreiche Geld- und Sachspenden trafen in Drugstore ein.
Nach einwöchiger Besetzung gab die Senatsbürokratie den Forderungen der Jugendlichen nach. Das Haus in der Wilhelmstraße wurde in Selbstverwaltung übernommen und nach dem von Bullen ermordeten Genossen Tommy Weisbecker benannt.
Die Nutzung des Hauses ist vertraglich auf zweierlei Weise geregelt: Erstens wurde ein Nutzungsvertrag zwischen dem SSB-Drugstore als formalem Trägerverein und dem als Hauptmieter fungierenden Berliner Jugendclub e.V. abgeschlossen, letzterer übernimmt dadurch in Konfliktfallen eine Pufferfunktion zwischen Forderungen der Jugendlichen und der Bürokratie. Gleichzeitig konnte der Senat eine Nutzungsvereinbarung durchsetzen, die ihm Möglichkeiten zur Kontrolle und Disziplinierung garantiert: Die Vereinbarung enthält die Heimparagraphen 78 und 79 des Jugendwohlfahrtsgesetzes sowie die Auskunftspflicht über Anzahl, Status und Tätigkeit der einzelnen Jugendlichen. Außerdem wurde ein monatlich tagender Koordinationsausschuß vereinbart, durch den die Jugendlichen zu Gesprächen über anstehende Probleme verpflichtet sind. Dieser Ausschuß erfüllt für den Senat die Funktion eines "Kontroll- und Frühwarnsystems."
Im Weisbecker-Haus wohnen fast ausschließlich ehemalige Trebegänger, darunter einige, die in Gruppen des Drugstore's aktiv mitgearbeitet hatten. Auf Mitarbeit oder Beratung durch Sozialarbeiter wurde verzichtet. Die Anfangsschwierigkeiten des Hauses können folgendermaßen umrissen werden: (Eine tiefergehende Reflexion und Aufarbeitung der Probleme des Zusammenlebens und ihrer Lösungsversuche wird derzeit von den Jugendlichen selbst in Angriff genommen. Diesem Vorhaben kann und darf an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden.) Nach zum Teil mehrjähriger Trebezeit bzw. Heimaufenthalt beginnt nach Beendigung der unmittelbaren Konfontration die "Abschlaffzeit". Die Organisation des Hauses und der Reproduktion wird von Wenigen geleistet. Teilweise führte dies zum Aufbau von Privilegien und Hierarchien sowie zur Veruntreuung von Geldern. Kollektive Lebens- und Kommunikationsformen müssen erst erlernt werden. Die Notwendigkeit zur Arbeit anstelle der bisher ausgeübten, Reproduktionsformen (Einbruch, Schnorren etc.) wird von einigen Jugendlichen erst allmählich eingesehen.
Die Lösung dieser angedeuteten Probleme muß als langwieriger, kollektiver Lernprozeß begriffen werden. Allerdings wird der Ablauf dieses Lernprozesses nicht nur von hausinternen und sozialisationsbedingten Faktoren bestimmt. Gerade Repressionsversuche des Staatsapparates (massive Bulleneinsätze, keine ausreichende finanzielle Unterstützung für Lebensmittel in den ersten Wochen, Versuchs der Kriminalisierung) trugen wesentlich zur Integration der Jugendlichen in das Wohnkollektiv bei. Der Gefahr der Isolierung des Hauses von der Bevölkerung im Stadtteil wurde zunächst durch Zeitungen, Flugblätter und zwei Kinderfeste entgegengewirkt. Darüber hinaus wurde ein Schülerrzirkel eingerichtet und mit Eltern aus umliegenden Häusern der Kampf um einen Abenteuerspielplatz und die Verbesserung der Lebensverhältnisse im Stadtteil aufgenommen.
Die Arbeit im Drugstore selbst wurde nach der Besetzung nicht wieder in vollem Umfang aufgenommen. Einmal war anfangs die praktische Unterstützung des Weisbecker-Hauses dringend erforderlich und zum anderen erscheint vielen Genossen eine kritische Aufarbeitung der bisherigen Praxis als unbedingt notwendig. Parallel dazu arbeiten einige Gruppen zur Zeit mit Heimjugendlichen zusammen, renovieren die Räume, betreuen einen Schularbeitszirkel und beteiligen sich an den Aktivitäten des Weisbecker-Hauses.